Marschflugkörper: Flugbombe V-1, die kaum kalkulierbare Terrorwaffe - WELT (2024)

Geschichte Marschflugkörper

Im März 1944 begann die Massenproduktion des ersten Marschflugkörpers der Militärgeschichte. Den Auftrag hatte das Volkswagen-Werk in Fallersleben ergattert. Arbeitssklaven übernahmen die Montage.

| Lesedauer: 4 Minuten

Von Sven Felix Kellerhoff

Leitender Redakteur Geschichte

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Großserienproduktion ist anspruchsvoll – auch wenn es sich um technisch unkomplizierte, ja bewusst reduzierte Produkte handelt. Darin jedenfalls unterschied sich der KdF-Wagen, besser bekannt als „Käfer“, nicht wesentlich von dem vermeintlichen „Flakzielgerät“ Fi-103, allgemein vertrauter Name: V-1.

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Beide Geräte bestanden aus Stahlblech in Stromlinienform. Beide hatten ein schlichtes Triebwerk, das ausdrücklich für Massenherstellung konzipiert war. Ansonsten waren beide schlicht ausgestattet. Doch auch für solche einfachen Produkte braucht man Erfahrung, um sie in großer Zahl herstellen zu können.

Kein Wunder also, dass sich das Volkswagenwerk bei Fallersleben am Mittellandkanal erfolgreich um den Auftrag bemüht hatte, die erste der „Vergeltungswaffen“ des NS-Regimes endzumontieren. Anfang März 1944 begann die Produktion.

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Das Werk, zu dem Hitler persönlich am 26. Mai 1938 mit großem Pomp den Grundstein gelegt hatte, baute seit Kriegsbeginn keineswegs wie angekündigt den „Kraft durch Freude“-Wagen, der das deutsche Volk kostengünstig hatte mobilisieren sollen. Stattdessen entstanden in den Hallen nochmals vereinfachte Wehrmachtsversionen des Käfers, aber auch zahlreiches anderes Kriegsgerät. Oft wurden dazu Zwangsarbeiter eingesetzt.

Baugruppen von 50 Zulieferern

Attraktiv erscheinen musste der Leitung des Volkswagenwerks der Auftrag für die Massenproduktion der V-1 auf jeden Fall. Konnte man doch hier auf die Fließbandproduktion zurückgreifen, die der eigentliche Zweck der riesigen Fabrik war. Einzelteile der fliegenden Bombe und halb fertige Baugruppen wurden von rund 50 Herstellern zugeliefert.

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Die V-1 war ein Projekt der Luftwaffe, im Gegensatz zur ballistischen Rakete V-2, deren korrekter technischer Name A-4 lautete, für „Aggregat 4“. Trotzdem wurden beide im Sperrgebiet Peenemünde auf der Ostsee-Insel Usedom entwickelt. Aus Informationen von Widerstandskämpfern und durch erfolgreiche Spionage erfuhren die Alliierten von der Bedeutung der Anlagen in Peenemünde. Am 17. August 1943 starteten sie einen vernichtenden Bombenangriff, der zur Verlegung der Produktion führte.

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Zu dieser Zeit stand die V-1 kurz vor der Serienreife. Im besetzten Frankreich wurden parallel damit bereits die ersten von mehreren Dutzend stationären Startrampen errichtet. Die V-1 war ein im Wesentlichen ungesteuerter Flugkörper. Sie hatte zwar Höhen- und Seitenruder, die aber vornehmlich zur Stabilisierung der Flugbahn geeignet waren. Dazu diente ein einfacher Kreiselkompass, der wie die Ruder und die Treibstoffförderung für das Staustrahltriebwerk mit Druckluft betrieben wurde.

Der Flugkörper wurde auf das Ziel gerichtet, in der Regel London, gestartet und flog eine definierte Zeit, die eingestellt werden konnte. Nach Ablauf der Zeit ging das Triebwerk aus, und die Höhenruder kippten die V-1 in Richtung Boden. Beim Aufschlag detonierte der 850 Kilogramm schwere Sprengkopf.

Fertigung im KZ Dora-Mittelbau im Harz

Die Serienfertigung im Keller des Volkswagenwerkes begann allerdings zu einem Zeitpunkt, als alliierte Bomber die deutsche Rüstungsindustrie bereits stark unter Druck setzten. Deshalb planten die VW-Verantwortlichen auch von Beginn an, die Produktion der V-1 baldmöglichst an einen bombensicheren Standort zu verlegen.

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Gedacht war zunächst an ein Stollensystem im Ahrtal, das im Auftrag der eigens gegründete Minette GmbH von KZ-Häftlingen aus Buchenwald ausgebaut wurde. Hier sollten auf 28.000 Quadratmeter Fläche mehrere Fertigungslinien aus dem Keller des Volkswagenwerkes errichtet werden, die eine Produktion von 3500 bis 5000 V-1 pro Monat erlauben würden.

Allerdings gab das beteiligte SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt diesen Plan nach Beginn der alliierten Invasion im Juni 1944 auf: Das Ahrtal schien nun zu exponiert zu liegen. Stattdessen wurde die Produktion der V-1 wie auch der V-2 im Werk Mittelbau im Harz konzentriert, wo zusätzlich ein großes KZ mit dem Namen Dora eingerichtet wurde.

45.000 Opfer in London und Antwerpen

Wie viele der insgesamt etwa 12.000 auf Großbritannien und später auch auf Antwerpen abgefeuerten V-1 aus der im Keller des VW-Werkes gebauten Serie stammten, ist unbekannt. Es dürfte aber eine niedrige vierstellige Zahl gewesen sein.

Die Flugbombe erwies sich als reine Terrorwaffe: Sie war noch weniger treffsicher als selbst die ersten britischen Luftangriffe auf deutsche Städte 1940, bei denen ein Einschlag im Umkreis von einem Kilometer um das Ziel noch als Treffer gewertet worden war.

Rund 7000 britische Zivilisten starben 1944 bei den V-1-Angriffen auf London, weitere etwa 18.000 wurden verletzt. In Belgien kamen 1944/45 weitere 15.000 Tote und Verwundete hinzu. Die vermeintliche Wunderwaffe erwies sich als schmerzhafter, aber strategisch unbedeutender Nadelstich.

Einen Rekord aber hält die V-1 bis heute: Mit einer Marschgeschwindigkeit von knapp 600 und einem Spitzentempo von mehr als 800 Stundenkilometern war sie das schnellste jemals bei VW gefertigte Großserienprodukt.

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