„Wunderwaffen“: Die V-1 sollte Vergeltung für die Invasion sein - WELT (2024)

Anzeige

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, muss sich selbst Mut machen. „Es besteht der Plan, im Laufe der Nacht zum ersten Mal das Kirschkernprogramm gegen London einzusetzen“, diktierte Joseph Goebbels am frühen Morgen des 13. Juni 1944 seinem Sekretär, „und zwar zuerst einmal in einer Nacht mit 500 Schuss.“

Anzeige

Als „Kirschkern“ bezeichnete der NS-Chefpropagandist die Fieseler Fi-103, den ersten Marschflugkörper der Militärgeschichte – besser bekannt als V-1. Dabei bezeichnete der Codename „Kirschkern“ lediglich das einfache Lenkverfahren.

Goebbels wünschte sich in dieser Nacht, dass „die Bedingungen halbwegs günstig sein“ würden. Denn dann würde „zum ersten Mal das, was im Volke unter dem Begriff ‚Vergeltung‘ verstanden wird, in Aktion treten“.

Schon seit mehr als einem Jahr hatte er immer wieder den Einsatz dieser neuen Waffe herbeigesehnt. Der erste Eintrag in seinen täglichen Aufzeichnungen datiert vom 2. Juni 1943: „Wir müssen also alle Kräfte zusammenfassen, um unsere Vergeltungswaffe möglichst schnell aufzubauen und dann einzusetzen.“

Einige Wochen später, am 17. August 1943, hielt er dann fest, die Briten hätten „Angst vor dem Werden unserer Vergeltungswaffe.“ Denn auch sie hätten „sicherlich schon von unserer neuen Geheimwaffe erfahren, die ihnen einiges Alpdrücken verursachen wird“.

Zwei verschiedene Geheimwaffen

Tatsächlich verfügten die alliierten Geheimdienste schon seit 1942 über Informationen aus Kreisen des dänischen Widerstandes, dass immer wieder geheimnisvolle Flugobjekte mit lauten, aber ungewöhnlichen Geräuschen über die Ostsee fliegen würden. Ende des Jahres kam der Bericht eines Kopenhagener Chemikers, der bei Swinemünde den Start einer riesigen Rakete beobachtet hatte.

Anzeige

Obwohl die Briten Mitte August 1943 einen schweren Luftangriff auf Peenemünde flogen, wo die Geheimwaffen entwickelt wurden, konnten sie deren Serienproduktion nicht verhindern. Für etwas Beruhigung in London sorgte jedoch, als die Analytiker Ende 1943 erkannten, dass es zwei verschiedene V-Waffen gab: die Flugbombe V-1 und die ballistische Rakete V-2.

Fortan wurden die beiden Systeme getrennt bekämpft: Britische Jagdbomber zerstörten erst die stationären, dann die mobilen Startrampen für die V-1, während die großen Vorbereitungsbunker für die V-2 ebenso attackiert wurden wie die Schienenstrecken zu den vermuteten Produktionsstätten.

Von dieser doppelten Strategie bekam Joseph Goebbels nichts mit – vielleicht wollte er auch nicht verstehen, dass der Gegner sich längst auf die neue Bedrohung eingestellt hatte. Der NS-Funktionär hoffte weiter auf die Kraft der neuartigen Waffen: „Unsere Vergeltungswaffe bereitet den Engländern furchtbares Alpdrücken, und das auch mit Recht; denn sie ist jetzt so weit, dass sie eingesetzt werden kann“, diktierte er am 16. April 1944.

Viele Gerüchte gehen durch die Öffentlichkeit

Anzeige

Anzeige

Ein Irrtum: Noch lagen erst wenige Dutzend einsatzfähige Flugbomben V-1 bereit, und die Serienproduktion der V-2 stand sogar erst bevor. Dazu wurden ohne Rücksicht auf Verluste KZ-Häftlinge eingesetzt, die unterirdische Fabrikhallen ausbauen mussten.

Selbst nach dem Beginn der alliierten Invasion vermerkte Goebbels noch: „Viele Gerüchte gehen durch die Öffentlichkeit, aber meistens positiver Art. Man erwartet vor allem, dass sehr bald unsere Vergeltungswaffe eingesetzt wird.“

Das war der unmittelbare Reflex des Propagandaministers auf eine Bemerkung im aktuellsten Bericht des SS-Sicherheitsdienstes über die Stimmung in Deutschland, bekannt als „Meldungen aus dem Reich“. In einem auf den 8. Juni 1944 datierten Report hieß es nämlich: „Fast allgemein wird angenommen, dass jetzt unsere Vergeltungswaffe eingesetzt werde.“

Doch als der Einsatz tatsächlich beginnen sollte, misslang er weitgehend. Am 12. Juni 1944 sollten um genau 23.40 Uhr von 65 Startrampen eine erste Welle von V-1 abgeschossen werden und eine Stunde später eine zweite Welle. 130 Waffen sollten starten, zusätzlich weiteres vereinzeltes „Sperrfeuer“ bis 4.45 Uhr.

Tatsächlich hoben jedoch erst ab 3.30 Uhr morgens insgesamt zehn Marschflugkörper ab, von denen nur vier England erreichten. Obwohl in den folgenden Nächten die Abschussrate etwas anstieg, wurde die avisierte Zahl von 500 V-1 erst am 18. Juni erreicht.

Die Steuerung ließ sich austricksen

Zu dieser Zeit aber hatten die Royal Air Force bereits erste Taktiken entwickelt, die schnellen, aber nicht unerreichbaren Flugbomben zu bekämpfen. Weil sie über einen Sprengkopf verfügten, war es lebensgefährlich, eine V-1 abzuschießen. Denn bei einem Treffer flog der Jäger unweigerlich durch die Splitterwolke der Explosion.

Also setzten sich waghalsige Piloten im modernsten britischen Jagdflugzeug, der Hawker „Tempest“, neben die V-1. Dann versuchten sie, mit ihren Tragflächen die unbemannten Flugbomben aus dem stabilen Horizontalflug zu kippen. Weil die einfache Steuerung darauf nicht reagieren konnte wie ein menschlicher Pilot, führte das unweigerlich zum Absturz. Allerdings erforderte dieses Manöver eine perfekte Beherrschung des eigenen Flugzeuges.

Anzeige

Anzeige

Am selben 18. Juni, an dem die Zahl von 500 abgeschossenen V-1 erreicht wurde, hatte Joseph Goebbels schon die Begeisterung für die angebliche „Wunderwaffe“ weitgehend eingebüßt: „Wir werden zwar den Einsatz der Vergeltungswaffe weiterhin stärkstens in der Presse besprechen, aber dabei keinerlei Hoffnungen im deutschen Volke erwecken, die sich nach Lage der Dinge vorerst nicht erfüllen können.“

Nun setzte er auf die nächste neue Entwicklung, die ballistische Rakete V-2 alias „Aggregat-4“. Schon am 22. Juni 1944 diktierte er: „Der Führer hofft, Anfang August die A-4 zum Einsatz bringen zu können. Sollte das möglich sein, dann wird den Engländern allerdings das Lachen und das Beschönigen vergehen, denn die A-4 hat natürlich eine viel enormere Wirkung als die V-1.“

Das stimmte zwar rein technisch, denn gegen die überschallschnelle Rakete gab es keinerlei Abwehrmöglichkeit. Aber der erhoffte strategische Erfolg blieb abermals aus: Auf jede verschossene V-2 kamen mehr als 1000-mal so viele konventionelle Bomben, die alliierte Flugzeuge auf Deutschland abwarfen.

„Wunderwaffen“: Die V-1 sollte Vergeltung für die Invasion sein - WELT (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Madonna Wisozk

Last Updated:

Views: 6120

Rating: 4.8 / 5 (48 voted)

Reviews: 87% of readers found this page helpful

Author information

Name: Madonna Wisozk

Birthday: 2001-02-23

Address: 656 Gerhold Summit, Sidneyberg, FL 78179-2512

Phone: +6742282696652

Job: Customer Banking Liaison

Hobby: Flower arranging, Yo-yoing, Tai chi, Rowing, Macrame, Urban exploration, Knife making

Introduction: My name is Madonna Wisozk, I am a attractive, healthy, thoughtful, faithful, open, vivacious, zany person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.